Anmerkungen des Regisseurs Bruno Moll zum Film

Nacer Khemir begegnet als halbwüchsiger einer Reproduktion eines Gemäldes von Paul Klee. Das Bild fasziniert den jungen Nacer derart, dass er beschliesst, Maler zu werden. Jahre später, längst einer der bedeutendsten Filmemacher Tunesiens geworden, erkennt er mehr und mehr die tiefere Bedeutung jener frühen Begegnung: «Paul Klee hat erkannt, dass die wesentlichen Dinge unsichtbar sind. Er sah, dass man, um an die Wurzeln der Dinge vorzudringen, lernen sollte, mehr zu sehen als nur die äussere Erscheinung. Klee hat, im Gegensatz zu anderen Malern, als er nach Tunesien kam, keine ‹exotischen› Sujets gemalt, er hat das besondere Licht und damit die Farben erfasst. Ich fühle mich Klee sehr nahe.»
Der 1948 geborene Nacer Khemir lebt und arbeitet in Tunis und Paris. Seine Filme («Bab’Aziz», «Das verlorene Halsband der Taube») zeichnen sich gerade dadurch aus, dass er es durch seine Bilder versteht, das Unsichtbare zum Erlebnis zu machen.

Im April 1914, kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges, unternahmen die Malerfreunde Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet eine vierzehntägige Reise ins nordafrikanische Tunesien. Dieser kurze Aufenthalt sollte später als ‘Tunisreise’ in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Bedeutung erhalten. Am 16. April 1914 schreibt Paul Klee im südtunesischen Kairouan in sein Tagebuch: «Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief in mich, ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiss. Die Farbe hat mich. Ich brauch nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farben sind eins. Ich bin Maler.»
Diese euphorischen Zeilen sind wohl die meistzitierten Sätze in den zahlreichen Biografien und Betrachtungen über Paul Klee und markieren einen Wendepunkt in seinem Schaffen. Die Erfahrungen der Tunisreise haben Paul Klees späteres Schaffen nachhaltig beeinflusst.

Februar 2006. Ich mache mir Sorgen. Die Beziehungen zwischen Orient und Okzident sind anfangs des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Zwei Kulturen mit den gleichen Wurzeln streiten, teils mit kriegerischen Mitteln, um unterschiedliche Wertesysteme. Der Wertekrieg tobt unter uns und unter den Muslimen selbst. Hier bei uns im Westen das Primat der aufgeklärten Vernunft, dort das Primat der Religion. Wir sind uns nicht mehr so sicher, welche Werte wir anstreben und verteidigen sollen. Darum sind wir verunsichert und verletzlich. Den Muslimen geht es ähnlich. Vor die grossartige muselmanische Kultur schiebt sich die Fratze des islamischen Fundamentalismus, vor die unsere, abendländische, jene des kalten Materialismus. Das Problem ist virulent und ohne Anstrengung beider Kulturen schwierig zu lösen.

Im besten Falle ist Kunst Völker verbindend. Im schlechtesten werden die Bilder gestürmt. Jener beängstigend eskalierte Karikaturenstreit vom Frühjahr 2006 verweist darauf. Ohne gegenseitiges Verständnis der jeweils anders gearteten Kultur ist keine friedliche Koexistenz möglich. Das ist zwar eine Binsenwahrheit, der Gedanke nicht besonders originell, aber offenbar schwer zu realisieren. Mit dem Film «Die Tunisreise» möchte ich zu dieser Verständigung beitragen.

SIDE B