Interview mit Regisseur Christof Schertenleib über «Grosse Gefühle»

Grosse Gefühle und künstliche Krisen

Ein Gespräch mit dem Berner Filmautor Christof Schertenleib, dessen zweiter Film «Grosse Gefühle» am Filmfestival von Locarno im Wettbewerb läuft.

Sie setzen in «Grosse Gefühle» zwei Paare einander gegenüber: Linus und Christa, die eine offene Beziehung zu leben versuchen, und Sybil und Franz, die ihr Glück in der romantischen Liebe finden. Weshalb ergreifen Sie, Christof Schertenleib, für keines der beiden Modelle Partei?
Ein wichtiger Teil dessen, was ich mit «Grosse Gefühle» zu beschreiben versuche, ist eben gerade, dass es nicht eine einzige richtige Beziehungsform gibt und dass die verschiedenen Beziehungskonzepte mehr miteinander zu tun haben, als häufig angenommen wird. Vor allem in dem Milieu, von dem ich erzähle, wurden zumindest in der Schweiz die Beziehungsformen in den achtziger Jahren noch viel stärker ideologisiert. Das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Heute ist vielen klar, dass es gar nicht so sehr um das ferne Ziel geht, sondern darum, dass die Dinge im Fluss bleiben und immer wieder erörtert werden.

Ist das auch eine Reaktion auf die Leere nach dem Zerfall der Ideologien und dem Verlust der Utopien?
Ich sehe das nicht unbedingt als Leere. Verglichen mit der Zeit Anfang der neunziger Jahre, als viele darüber geklagt haben, dass die Utopien und Ideologien verschwinden oder dass die 68er und bedingt auch die 80er Generation ihre Vorbildfunktion verlieren, empfinde ich diesen vermeintlichen Verlust eher als Befreiung.

Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?
Das hat sich nach und nach verändert. Nach «Liebe Lügen», meinem ersten langen Spielfilm, in dem die Figuren noch auf der Suche sind, wollte ich einen Film über Menschen machen, die nicht einfach auf das grosse Glück warten, sondern sich ihre grossen Gefühle täglich neu schaffen.

In welcher Beziehung stehen für Sie «Grosse Gefühle» und «Liebe Lügen» zueinander? Sind sie ein Liebespaar?

Die beiden stehen sicher in enger Beziehung. Spontan würde ich sie als Geschwisterpaar bezeichnen: «Grosse Gefühle» wäre dabei die etwas ältere Schwester, die – machmal zumindest – schon etwas gelassener über das Leben sprechen kann.

Gelassener sind auch Ihre Figuren geworden. Ist dies eine Frage des Alters?
Die «Liebe Lügen»-Figuren waren in einer Umbruchphase. Sie haben sich unter anderem mit Lügen darüber hinweggetäuscht, dass sie sich entscheiden müssen, in welche Richtung ihr Leben gehen soll. Die «Grosse Gefühle»-Figuren sind im Prinzip dort angelangt, wo sie hinwollten.

Sie sind erwachsen geworden. Gehört dazu auch die Einsicht, dass nicht viel mehr zu erreichen ist, als wenigstens dem Blues einen Schritt voraus zu sein, wie es im Song von Züri West am Schluss des Films heisst?
Der Song ist, wie viele Lieder von Züri West, vielschichtig und kann wohl ganz unterschiedlich gedeutet werden. Er beschreibt auf der einen Seite, ähnlich wie der Film das am Beispiel von Linus zeigt, dass das Arrangieren mit dem Gegebenen eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, um wieder vorwärts zu schreiten. Gleichzeitig strahlt der Song für mich auch eine optimistische Kraft aus.

Wo sehen Sie den Optimismus?
«Jitz geits mr wieder viu viu besser, i han e Wohnig wo mr gfaut u i ha mr e Meersou gkouft» – so beginnt der Song und so kann nur ein Mensch von sich erzählen, der imstande ist, seine Situation mit spielerischer Ironie zu betrachten. Das kleine Glück hat er gefunden, jetzt geht es wieder voran. Klar, aus der Sicht eines Mannes der glaubt, er werde sich in einen Märchenprinzen verwandeln, die interessanteste und schönste Frau der Welt treffen und mit ihr das absolute Glück zu erleben, hat dieses Sich-Arrangieren vielleicht etwas Resignatives.

Trotz des kleinen Glücks haben Sie dem Film den Titel «Grosse Gefühle» gegeben.
Das hat natürlich auch eine ironische Note – «Anna Karenina» wäre ja nie unter diesem Titel verfilmt worden, weil das Benennen der grossen Gefühle diese gleichzeitig relativiert und damit in Frage stellt. Der Titel gibt einen Hinweis darauf, dass es nicht um das Schwelgen in melodramatischen Höhen und Tiefen geht, sondern eher um jene alltäglichen Gefühle, die wir alle auch kennen.

Sie lassen «Grosse Gefühle» mit einem Wunschbild – das vielleicht auch ein Trugbild ist – enden und zeigen die Figuren vereint in einem gemeinsamen Lebens- und Arbeitsprojekt. Ganz mögen Sie auf Utopien offensichtlich doch nicht verzichten.
Ich habe ganz einfach mein emotionales Bedürfnis befriedigt, dass meine Heldinnen und Helden auch in Zukunft etwas miteinander zu tun haben. Und dass es ihnen gelingt, trotz ganz unterschiedlicher Ansichten ihr individuelles Glück ein Stück weit gemeinsam zu finden.

Phantastische Elemente spielen in «Grosse Gefühle» eine wichtige Rolle. Romangestalten tauchen auf und am Himmel geschehen Zeichen und Wunder. Woher kam die Inspiration dazu?
Das war ein Vorschlag meines Koautors Michael Glawogger, der seiner Drehbuchfassung, die ich so allerdings nicht hätte verfilmen wollen, durchgehend eine phantastische Note gab. Ich habe Teile davon übernommen und sie in meine Realität eingewoben. Mir hat daran vor allem das Spielerische gefallen. Dies ist ein formales Element, für das ich schon in meinen früheren Kurzfilmen eine grosse Vorliebe hatte.

Ist das für Sie auch ein Schritt hin zu einem freieren Umgang mit filmischen Mitteln und erzählerischen Formen?
Bis zu einem gewissen Grad. Ich komme eigentlich vom Dokumentarfilm und hatte vor allem während meiner Filmschulzeit – geprägt von der Zeit nach 1968 – relativ strenge formale Kriterien. Mein eigenes Dogma hätte es mir zum Beispiel nicht erlaubt, einen Spielfilm mit untermalender Orchestermusik zu machen, oder dann nur, wenn ich es als spielerisches Element deklariert respektive ironisiert hätte. Bezeichnenderweise lautete der Untertitel zu meinem alleresten halbstündigen Spielfilm «Fieber Zeit» denn auch «Spielfilmchen mit viel Schwarzweiss und wenig Farbe, mit einer Überblendung und ohne Musik». Die Erfahrungen mit «Liebe Lügen», den ich in einer sehr einfachen Form erzählt habe, und später das Drehbuch zu «Grosse Gefühle» haben mitgeholfen, die eigenen Dogmen nicht mehr so ernst zu nehmen. Aber das heisst natürlich nicht, dass ich mich von der Realität als wichtigstes Ausgangsmaterial entfernen möchte.

In «Liebe Lügen» wird viel gelogen, in «Grosse Gefühle» versuchen die Figuren, vor allem Linus und Christa, sich immer wieder auszusprechen.
Gelogen wird wohl fast gleichviel, die Lügen allerdings sind anders. So bestehen sie diesmal zum Beispiel darin, dass der monogame Linus immer wieder neue Theorien erfinden muss, damit er überhaupt mit einer Polygamistin zusammensein kann.

Ist das nicht eher ein schon fast magischer Glaube an das Wort? Dass nämlich ein Problem gelöst sei, wenn man dafür die richtige Bezeichnung findet?

Das vielleicht auch. Andererseits: Linus wurde konservativ-katholisch erzogen, mit einer klaren Vorstellung, wie das Leben zu sein hat. Um seine Emotionalität rechtfertigen zu können und um nicht immer wieder darunter zu leiden, dass er sich eigentlich in einer «verbotenen» Situation befindet, muss er für sich auch eine sprachliche, eine theoretische Lösung finden, die mit seiner praktischen Erfahrung korrespondiert, dass er mit Christa eigentlich glücklich ist. Der Glaube an das Wort hat also auch mit den in «Grosse Gefühle» geschilderten Figuren zu tun.

Gespielt wird Linus von Stefan Suske, der in «Liebe Lügen» den wesensverwandten Max verkörperte. Haben Sie bereits beim Schreiben des Drehbuchs an ihn gedacht?
Nach den guten Erfahrung mit «Liebe Lügen» habe ich zuerst den Wunsch gehabt, mit all diesen Leuten einen zweiten Film zu machen. Bei der Entwicklung der neuen Figuren ist dann allerdings eigentlich nur ein Schauspieler übbrig geblieben, der auch für die neue Geschichte alle Bedingungen erfüllt hat: Beim Österreicher, der in der Schweiz lebt, habe ich immer an Stefan Suske gedacht.

Haben Sie in Stefan Suske Ihr Alter ego gefunden?
Das würde ich so nicht sagen. Nicht nur in seiner Figur, sondern auch in allen anderen erkenne ich mich in Teilaspekten wieder. Wenn das nicht so wäre, könnten sie für mich nicht funktionieren.

Zentral im Film ist der Begriff künstliche Krise. Gemeint ist damit ein experimentelles soziologisches Verfahren, bei dem es darum geht, Regeln und Normen vorsätzlich zu verletzen, um anschliessend beobachten zu können, wie Normalität wieder hergestellt wird. Wie weit arbeiten Sie als Filmemacher und Erzähler mit künstlichen Krisen?
Es ist ein Grundprinzip des Drehbuchschreibens und Filmemachens, dass Figuren mit Konfliktsituationen konfrontiert werden. Ohne «künstliche» Krisen wäre die Schilderung einer Woche aus dem Leben von Christa, Linus und den anderen völlig uninteressant. Tatsächliche Normalität ist zum Zuschauen im Kino meist unendlich langweilig. Eines meiner Ziele besteht aber gerade darin, so zu tun, als wäre die Kamera ganz normal und quasidokumentarisch dabei. Ich versuche die Krisen deshalb so anzuordnen, dass sie als «ganz normale» Ereignisse wahrgenommen werden.

Würden Sie Ihren Blick auf die Figuren als ethnographisch bezeichnen?

Mein Blick ist kein geschulter ethnografischer Blick. Die Basis bilden meine Alltagsbeobachtungen, inspiriert sind meine Figuren von Menschen, die ich kenne. Dies zusammen ergibt in der Verdichtung – so wünsche ich es mir zumindest – so etwas wie einen ethnographischen Blick.

Zum Thema Literatur: Nicht nur in der Handlung, auch in der Form Ihres Films – mit dem Untertitel «Fast ein Roman» – spielen Literatur und Literarisches eine wichtige Rolle. Weshalb diese Verbindung?
Ich lese gerne, liebe Literatur und habe Lust gehabt, eine Hommage an die Literatur zu machen, und sei es nur mit formalen Spielereien. Mir hat der Gedanke gefallen, so zu tun, als ob dieser Film ein Buch wäre. «Fast ein Roman» wurde übrigens inspiriert vom Schriftsteller Klaus Merz, dessen wunderschönes Buch «Jakob schläft» den Untertitel «Eigentlich ein Roman» trägt. Das Umblättern der Bilder und die Fussnoten verweisen auf weitere Elemente, die in der Buchwelt vorkommen. Das hat sich natürlich auch dadurch ergeben, dass Buchhandlungen, Bücher und literarische Figuren eine nicht unbedeutende Rolle spielen.

Sie verknüpfen wieder mehrere parallel verlaufende Geschichten, die sich gegenseitig beeinflussen. Weshalb wählten Sie diese Form des Erzählens?
Das hat wohl damit zu tun, dass es mir beim Schreiben grossen Spass macht, Dinge, Ereignisse und Personen zu erfinden, die sich miteinander so vernetzen lassen, dass daraus eine eigene Spannung entsteht und das Publikum etwas entdecken kann. Nach «Liebe Lügen» hatte ich allerdings zuerst den Wunsch, einen Film mit einer Heldin und einem Helden zu machen. Bis zu einem gewissen Grad hat das auch geklappt: Christa und Linus stehen viel häufiger im Mittelpunkt als die übrigen Figuren. Schon beim Entwerfen haben aber die verschiedenen Geschichten eine Eigendynamik entwickelt, die sich nur bis zu einem gewissen Grad steuern liess.

Eine wichtige Rolle spielt die Musik. Sie haben Songs von Stop the Shoppers, Stiller Has und Züri West ausgewählt, unter anderem auch «I schänke dir mis Härz». Ist es nicht problematisch, einen derart bekannten Hit zu verwenden?
Wenn ich den Song ohne Bezug zu einer Person eingesetzt hätte, wäre mir das auch problematisch vorgekommen. Für die deutsche Wissenschafterin Christa, die unter anderem deswegen gerne in Bern lebt, weil sie die hiesige Sprache und Musik mag, schien mir dies aber das treffendste Stück zu sein. Ich weiss zudem aus eigener Erfahrung, dass das einer der wenigen berndeutschen Songs ist, zu dem auch Nicht-Dialektsprechende meist sofort einen Zugang haben.

Weshalb haben Sie nur Musik von Berner Bands ausgewählt?
In einem englischsprachigen Film kommen ja meist auch nur englischsprachige Songs vor, nein im Ernst: Erstens gefällt mir die Musik der ausgewählten Bands sehr gut. Zweitens sind die Stücke trotz der gemeinsamen Dialektsprache auch sehr verschieden. Damit passen sie gut zum Film, der ja von unterschiedlichen Beziehungskonzepten erzählt, die offenbar auch etwas gemeinsam haben. Da schafft die Musik auch Verbindungen. «Ängle» von Stiller Has zum Beispiel beginnt bei den ersten Einsätzen ohne Text eher als Musik für Linus und Christa und begleitet dann, wenn später auch Text zu hören ist, immer stärker die Geschichte von Franz und Sybil. Beim letzten Einsatz richten sich die Worte des Textes an fast alle Figuren. So entstanden Vernetzungen und Mehrdeutigkeiten, die für das Verständnis des Films einen winzigen Stellenwert haben und bestimmt nicht von allen wahrgenommen werden, die mir aber sehr gefallen.

Wie sind Sie nach dem überraschenden Erfolg von «Liebe Lügen» mit dem Druck umgegangen?
Ich habe mir – quasi prophylaktisch – gesagt, dass sich dieser Erfolg mit dem zweiten Film nicht wiederholen lässt. Das Dilemma mit den zweiten Filmen ist ja, dass sie immer mit den ersten Werken verglichen werden. Waren diese einigermassen erfolgreich, werden sie in der Erinnerung für viele meistens immer besser. Der Zweitling ist dann entweder gleich wie der Erstling und deswegen schlecht. Oder völlig anders und ebenfalls genau deswegen lange nicht so gut wie der erste Film. Mit dieser «Es-geht-ja-auf-alle-Fälle-schief»-Haltung habe ich mich ganz gut motivieren können. Während der Arbeit war ich manchmal angespannt und wurde erst gelassener, als der Zweitling nach dem Rohschnitt für mich langsam zu einer funktionierenden Einheit wurde. Wirklich Druck würde ich erst spüren, wenn «Grosse Gefühle» nur negative Resonanz und kein Interesse auslösen würde.
 
Zum Glücksfall «Liebe Lügen» gehörte auch die sehr gute Aufnahme am Festival von Locarno. Mit welcher Haltung reisen Sie nun das zweite Mal an den Lago Maggiore?

Bei «Liebe Lügen» war ich skeptisch, ob dieses Festival der richtige Rahmen ist. Denn ich habe mehr als einmal miterlebt, wie in Locarno Schweizer Filme untergegangen sind und nachher auch im Kino grosse Schwierigkeiten hatten. Mit «Liebe Lügen» habe ich genau das Gegenteil erlebt. Zum voraus lässt sich aber nicht abschätzen, wie es herauskommt, da spielen zu viele unberechenbare Faktoren eine Rolle. Trotzdem freue ich mich auf des Festival. Für einen Spielfilm in der Grössenordnung von «Grosse Gefühle» ist Locarno einfach eine der besten Möglichkeiten, um ihn dem Publikum und den Medien bekanntzumachen.   

 

Das Interview führte Thomas Allemann, erschienen ist es im "Kleinen BUND"

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