Interview mit Regisseur Frédéric Fonteyne


Wann genau kam Ihnen die Idee, den Roman von Madeleine Bourdouxhe zu verfilmen?
Als ich die Hälfte gelesen hatte und zu der Szene im Tanzlokal kam: Elisa sieht, wie Gilles mit Victorine tanzt, später sieht sie, wie Gilles Victorine beobachtet, die gerade mit einem jungen Mann tanzt. Diese Stelle hatte für mich etwas mit Kino zu tun. Alles lag im Blick dieser Frau: Sie versteht und entschließt sich zu schweigen, weil der Schock zu groß ist. So musste ich eher das Gefühl verfilmen als die Erklärung dessen, was ablief. Mich hat diese Szene fasziniert, denn obwohl mir Elisas Verhalten die Sprache verschlagen hat, kann ich es zugleich gut nachvollziehen. Denn jeder erlebt diese Form der absoluten Liebe auf die eine oder andere Weise. Man kann sagen: „Sie sollte reagieren, sprechen.“ Aber die tragische Schönheit von Madeleine Bourdouxhes Roman liegt genau in Elisas Schweigen.

Madeleine Bourdouxhes sehr bildliches Schreiben auf die Leinwand zu bringen war gewiss alles andere als einfach. Wie ist es Ihnen gelungen, diese Geschichte auch im Film anschaulich zu gestalten?
Zunächst beschloss ich, auf Rückblenden zu verzichten, obwohl es sie im Roman gibt, auch habe ich mich gegen eine OFF-Stimme entschieden. Ich wollte, dass der Zuschauer Schritt für Schritt nachvollziehen kann, was mit Elisa geschieht, dass er alles von ihrem Standpunkt aus wahrnimmt.
Ich habe dann Madeleine Bourdouxhes Tochter getroffen, die die Rechte an diesem Roman hat, um ihr meine Interpretation darzulegen. Über das Bedürfnis hinaus, diese Geschichte zu verfilmen, empfand ich eine Art Verantwortung. Zum ersten Mal verfilmte ich einen Roman, und ich fragte mich, ob die Verfilmung die Geschichte ändern würde, ob ein Roman überhaupt verfilmt werden muss, ob ein Roman, der einem gefällt, nicht besser ein Roman bleiben sollte.
Ich habe mich selbst davon überzeugt, dass ein so starker, so dicht erzählter Roman schlicht unzerstörbar ist. Das hat mein Gewissen entlastet. Und Patrick Quinet, mein Produzent, verschaffte mir die Mittel, mein Vorhaben auszuführen.
Es war auch eine Reaktion auf «Une liaison pornographique», in dem das Wort überwiegt. Außerdem erinnerte ich mich an folgende Anekdote: Ein russischer Schauspieler, der Hamlet darstellte, blieb 17 Minuten zwischen „To be or not to be“ und „That is the question“ hängen - und die Zuschauer warteten voller Spannung. Natürlich umrahmen Shakespeares Verse dies alles, aber ich dachte, es könnte eine große Herausforderung sein, die innere Bewegung einer Figur wortlos zu verfolgen. Ich habe es mit «La Femme de Gilles» versucht.
Dies stellte auch für mich dann auch die grösste Herausforderung beim Drehbuchschreiben, beim Drehen und beim Schnitt dar: die innere Bewegung einer Figur in einer gewissen Zeitspanne spürbar zu machen und zugleich den Verlauf der Jahreszeiten und die Zeitlosigkeit zu veranschaulichen.

Die Lichteffekte sind großartig. Das Helldunkel ist sehr auffällig. Was hat sie dazu angeregt?

Vermeers Bilder, heilige Bilder… weil es an Elisa etwas Gewaltiges, etwas Absolutes gibt. Madeleine Bourdouxhe, die sich Gedanken über die Entstehung einer solchen Figur gemacht hat, spricht bei Frauen wie Elisa von einer Art Heldentum. Ein Heldentum, aus dem man sie erlösen möchte.
Als ich den Roman las, kam mir Elisa ungekünstelt und spontan vor. Ich hatte das Gefühl, sie lebt alles aus und nimmt die Schönheit der Dinge wahr. Das musste ich mit einer ästhetischen Gründlichkeit übertragen.

Warum haben Sie Emmanuelle Devos für die Rolle der Elisa ausgewählt?
Oft suche ich meine Schauspieler aus, ohne an einen bestimmten Film zu denken, weil ich sie einfach gern vor der Kamera agieren sehen möchte. Als ich «Sur mes lèvres» von Jacques Audiard sah, habe ich mich von Emmanuelle sofort angesprochen gefühlt. Die Freude und den Spass, den sie beim Schauspielern hat, war von ihrem Gesicht abzulesen. Ich habe ihr das Drehbuch von «La femme de Gilles» zugeschickt, wir haben uns getroffen, es war sehr angenehm und alles wurde in einer Viertelstunde geregelt. Es waren nicht die existentiellen Fragen der Elisa, sondern die Lust, sich darauf einzulassen, obwohl wir nicht genau wussten, wie wir das schaffen sollten.
Als wir uns wiedersahen, habe ich weder mit ihr noch mit Clovis Cornillac etwas vorbereiten können. Ich stand wie vor einer großen Leere. Erst am ersten Drehabend habe ich angefangen, mir den Film wirklich vorzustellen, weil beide vor meiner Kamera standen. Die Dreharbeiten waren schwierig, weil man ohne Hilfe der Worte arbeiten musste. Aber bei jeder Aufnahme hatte ich unheimlich viel Spaß dabei, Emmanuelle spielen zu sehen. Sie vertraute mir, schlug einiges vor, schöpfte vor meinen Augen. Da wir nichts vorbereitet hatten, hat sich ihre Figur nach und nach beim Drehen entwickelt.

Erzählen Sie, warum Sie Clovis Cornillac und Laura Smet für Gilles und Victorine ausgewählt haben…

Vor 15 Jahren, als ich die Filmhochschule abschloss, erzählte mir eine Frau von Clovis Cornillac. Sie fand, er sähe so gut aus… Diese Anekdote ist mir wieder eingefallen, und ich habe mir gedacht, er könnte Gilles ganz gut darstellen. Laura Smet wurde mir vom Castingleiter vorgeschlagen. Gerade hatte sie in «Corps impatients» mitgespielt, und als ich sie traf, wurde mir sofort klar, dass sie jetzt nicht mehr das Mädchen war, das mir bei den Dreharbeiten von «Une liaison pornographique» über den Weg gelaufen war, sondern eine junge Frau, die trotz ihrer Zweifel voller Lust auf Filme war. Ich fand außerdem, sie hätte genauso gut die jüngere Schwester von Emmanuelle Devos sein können.
Clovis und Laura hatten schwierige Rollen, von einem dramaturgischen Standpunkt aus gesehen, denn nichts von dem, was zwischen den beiden läuft, ist sichtbar – die Geschichte wird ja aus Elisas Perspektive erzählt.  Das heißt also, sie durften bei keinem Auftritt was zeigen.

Inwiefern sind die 30er Jahre und das Arbeitermilieu für den Aufbau der Geschichte von Bedeutung?
Ich hätte sie natürlich in die Gegenwart verlegen können. Was mit Elisa geschieht, ist universell. Aber was mich im Roman berührt hatte, war eben jene Elisa in jenem Milieu zu jener Zeit, selbst wenn die Geschichte über dies alles hinausgeht, um an die Situation einer Frau und an eine Form der absoluten Liebe zu gelangen. Mir gefiel, dass es die bürgerliche Ironie nicht gab, dass es zu diesem Zeitpunkt kein Fernsehen gab, dass die Figuren alles unverarbeitet empfangen. Humorlos. Dies war eine weitere Herausforderung im Film, denn damit grenzten wir immer an das Lächerliche an. Es war ein Drahtseilakt.

Sie haben schon immer mit Hors Champ (außerhalb vom Kamerafeldd, Anm. d. Red.) gearbeitet. „Une liaison pornographique“ ist ein meisterhaftes Beispiel dafür. In «La femme de Gilles» greifen Sie wieder darauf zurück. Was fasziniert Sie so sehr an der unsichtbaren Seite der Dinge?

In meiner Abschlussarbeit bei der I.A.D. habe ich mich schon mit dem Hors Champ befasst –  was zeigen, was nicht –, um zu erforschen, was ich filmisch so stark fand. Ich habe also die Arbeit mehrerer Regisseure analysiert. Dies führte mich zur plastischen und moralischen Dimension des menschlichen Angesichts und der inneren Bewegung.
Das Gesicht eines Menschen gibt unglaublich viele Informationen preis. Ich glaube, dass die Seele dort angesiedelt ist, dass sie auf der Oberfläche, auf der Haut zu sehen ist. Und durch das magische Kameraauge kann das erfasst werden. Schauen Sie sich nur das Gesicht von Renée Falconetti in «La passion de Jeanne d’Arc» von Dreyer an. Als Filmemacher ziele ich drauf ab, Schauspieler zu filmen und zuzuschauen, wie sich ihre „Seele“ mit der Figur, mit der Geschichte vermischt.  

Haben die Dreharbeiten von «La femme de Gilles» die vom Roman angeregten Fragen beantwortet?
Nein. Die Fragen bestehen noch weiter. Das, was mit Elisa geschieht, lässt mich noch immer sprachlos zurück.

Was möchten Sie mit «La femme de Gilles» den Zuschauern vermitteln?

Dass sie in diesem Film die Verbrennung zweier Personen erleben, wie eine lange Erfahrung, die man durchmacht, und dass ihnen die Worte fehlen, um das ausdrücken zu können, was sie sehen und empfinden.

Anscheinend drehen Sie wie Truffaut einen Film gegen den anderen. Soll das heißen, dass der nächste eine reine Komödie wird?
Bevor ich Madeleine Bourdouxhes Roman entdeckte, wollte ich eine Komödie oder eine Tragikomödie drehen. Nun habe ich Lust auf ein einfaches, lustiges Thema, je nach den Schauspielern. Aber wer weiß…

SIDE B