Anmerkungen des Regisseurs Michael Glawogger zu «Megacities»


Die Erde ist ein schöner Ort. Schrecklich wird sie nur durch die Menschen.


In Mexico City leben ca. 24 Millionen Menschen, wie viele es genau sind, weiss man nicht, weil man gar nicht wirklich weiss, wo Mexico City eigentlich anfängt bzw. aufhört. Geht man durch die Strassen, versteht man sein eigenes Wort kaum. In den ersten Tagen kriegt man ständig Kopfweh und Nasenbluten - das liegt nicht nur daran, dass die Stadt sehr hoch liegt, sondern auch daran, dass ein Mexikaner keine 50 Meter zu Fuss gehen würde, wenn er sie mit dem Auto fahren kann. Im Stau zu stehen hat aber zumindest den Vorteil, dass es dann nicht so staubt.

In Bombay leben gegen 17 Millionen Menschen, so genau weiss man das auch nicht, obwohl die Grenzen der Stadt eindeutig sind. Hier herrscht eher Implosion, man weiss nicht, wie viele Menschen pro Quadratmeter in der Stadt leben. Geht man durch die Strassen, ist da Gedränge, Hitze, Lärm und Gestank. Baut man eine Kamera auf, ist das Bild innerhalb von Sekunden voll mit Körpern, Köpfen, Gesten und Gesichtern.

In Moskau leben an die 8 Millionen Menschen. Geht man durch die Strassen, sieht man diese Menschen kaum, ausser jene, die trotz der beissenden Kälte auf den Gehsteigen vor den Wirtshäusern Wodka trinken, viertelweise. Die Betrunkenen werden dann aufgesammelt von der Behörde. Die Nüchternen drängen übelgelaunt durch die U-Bahn-Schächte. Zerlumpte freche Strassenkinder in Rudeln, ein missmutiges Geschimpfe von jedem auf jeden.

In New York leben ca. 9 Millionen Menschen. Der neue Bürgermeister hat vor ein paar Jahren begonnen, dafür zu sorgen, dass man einen grossen Teil davon möglichst nicht auf den Strassen sieht, zumindest nicht in Manhattan. Alles ist geputzt und abgestaubt, Geld und Erfolg ist der unverhohlene Massstab für alles, und Moral ist, dass man Pornofilme zwar nicht machen, aber verkaufen darf. Ein Wunder, dass nicht alle verrückt sind. Drogenabhängig sind jedenfalls viele, ob es nun Crack ist im Abbruchhaus oder Kokain im Upper Westside-Penthouse.

Shankar aus Nagar war Ballon-Falter. Jetzt hat er eine Maschine, ein Bioskop. Er findet Filmstücke, näht sie zusammen und dreht sie durch seine Maschine. Es gibt Helden und Heldinnen, die sich lieben und Lieder singen; es gibt Parties und Schlägereien; am Schluss fliegen der Held und die Heldin in einem Flugzeug weit weg. Mit dem Bioskop verdient Shankar seinen Lebensunterhalt und macht die Kinder glücklich.

Lola und ihr Mann aus Mexico City betreiben einen mobilen Strassenkiosk. Sie verkaufen gefüllte Paprika mit Käse, Hühner-Steaks und verschiedene Tortillas, die Lola nachts zu Hause zubereitet. „Zu Hause“ ist ein Hinterhofzimmer mit einem Bett, einer Couch, einem Tisch, einem Herd und einem Radio. Ausser dem Herd ist das Radio das Wichtigste. Schliesslich genügt es nicht, den guten Anzug und die goldenen Schuhe anzuziehen, um Samstags im Danzon eine gute Figur zu machen. Dafür muss man schon jeden Tag üben.

Oleg, Borja, Kolya und Mischa aus Moskau leben auf der Strasse. Ihre Eltern sind Trinker. Alle paar Monate kommt das deutsche Fernsehen um sie zu filmen, dafür kriegen sie soviel Geld, dass die Polizei meint, das können sie nur gestohlen haben, und sie für ein paar Tage einsperrt. Aber ohne Geld gehts auch, in Moskau gibt es genug öffentliche Ausspeisungen, da können sich sich fünfmal täglich satt essen. Eine Familie, das wär schon was, aber anderersetis gibts dann ständig nur Vorschriften.

Cassandra aus Mexico City heisst eigentlich Mariana Parra González. Cassandra ist ihr Künstlername. Sie arbeitet 7 Tage die Woche in der Burleske, sie tanzt in rotschwarzer Wäsche mit Netzstrümpfen, während sich die Männer aus dem Publikum an ihr festsaugen. Zur Arbeit fährt sie im Trainingsanzug, ihre Gage verhandelt die Künstlergewerkschaft. Sie hat drei Kinder, und sie kann sehr wütend werden, wenn Angélica Mabes zu viel Süssigkeiten isst oder Edwin Jesús beim Essen in Porno-Comics blättert.

Babu Khan siebt Farben. Sein Arbeitgeber gibt ihm die bunten Klumpen, damit hockt er dann unter seiner Plane und siebt sie zu feinem Pulver. Danach ist Babu Khan bis in jede Pore seiner Haut rot, blau, gelb oder grün. Zum Waschen hat er nur einen kleinen Gummikübel, trotzdem ist er jeden Abend blitzsauber.

Toni aus New York lebt in einer Shooting Gallery. Er braucht 250 Dollar pro Tag für Drogen. Er ist kein Zuhäl-ter mehr, denn irgendwann wurde es ihm unangenehm, die Mädchen so auszunehmen. Aber „Pussy“ ist das einzige, das sich immer und überall verkauft, auch wenn es gar nicht wirklich da ist. Also verkauft er jetzt „Air-Pussy“ - er vermittelt Mädchen, die es gar nicht gibt, in einem Bordell, das es nicht gibt. Er macht das sehr gut, seine Polaroids sind wirklich überzeugend, und manche Kunden kommen wieder, weil sie glauben, sie haben die Mädchen einfach nicht gefunden. Aber es ist harte Arbeit.

Lola und ihr Mann träumen davon, einmal nach Amerika zu reisen und Los Angeles zu sehen.
Oleg, Borja, Kolya und Mischa träumen davon, in den Süden zu gehen, wo es wärmer ist.
Cassandra träumt davon, ein eigenes Haus zu haben, um keine Miete bezahlen zu müssen, und ihren Kindern eine Zukunft zu geben.
Babu Khan träumt davon, aufs Land zurückziehen zu können.
Toni hat keine Träume mehr.

SIDE B