Anmerkungen der Regisseurin zu «Mein Freund der Dschihadist»

Als eine Frau, die unter den Regeln eines islamischen Regimes aufgewachsen ist, weiss ich, wie sich Unterdrückung anfühlt. Ich weiss auch, wie einfach es ist, in Deiner Jugend einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden, wenn Du in einer fragilen Entwicklung steckst und nach Deiner eigenen Identität suchst. Wenn Deine Familie Dir einen starken Rückhalt bietet und Du eine gute Ausbildung bekommst, dann ist es sehr gut möglich, dass Du eine vernünftige Persönlichkeit entwickelst. Du wirst Frieden in Dir selbst finden und dadurch auch einen passenden Platz in der Gesellschaft. Wenn Du jedoch eine schwierige Kindheit oder Jugend erlebst, und wenn Du nicht stark genug bist die Situation richtig zu deuten und die Schwierigkeiten Deiner Vergangenheit hinter Dir zurückzulassen, dann kann es leicht passieren, dass Du gegen den Strom schwimmen musst. In diesem Zustand könntest Du so ziemlich jede Identität akzeptieren, die Dir von Menschen angeboten wird, die darauf trainiert sind, Deine Situation auszunutzen.

Heutzutage lesen wir viel über junge Europäer, die extremistischen Gruppen wie ISIS, AL-SHABAB oder al-Qaida etc. beitreten. Als iranische Frau weiss ich, wie Fundamentalismus Dein Leben und das Leben von anderen beeinflussen kann, auch wenn der iranische Fanatismus anders ist, als derjenige, der von ISIS oder al-Qaida in Szene gesetzt wird. Das totalitäre Regime im Iran will nicht unbedingt sein Territorium vergrössern, aber es will um jeden Preis an der Macht bleiben. Religion ist nicht der Grund, wieso die iranische Bevölkerung unterdrückt wird, aber sie wird instrumentalisiert, um Kontrolle auszuüben. Seit den neuesten Kriegen in Syrien, im Jemen und in anderen Ländern in Afrika, brennt mir eine Frage auf der Zunge: Während in einem Land wie dem Iran die Mehrheit der BewohnerInnen von einem progressiven, demokratischen System, von individueller und politischer Freiheit träumt, treten viele Jugendliche aus etablierten Demokratien gewalttätigen, dschihadistischen Gruppen wie dem Islamischen Staat bei. Als junge Frau habe ich immer davon geträumt, in einem freien Land zu leben, wo es mir möglich sein würde, mich frei zu äussern und wo meine Individualität durch das Gesetz geschützt sein würde. Jetzt da ich wohl im demokratischsten Land der Welt lebe, indem ich meine Freiheit geniessen kann und zu schätzen weiss, frage ich mich, wieso gewisse Jugendliche diese Freiheit aufgeben und sich stattdessen freiwillig den strikten Regeln und Grenzen der militanten Eiferer unterwerfen. Sie werden von Gruppen angezogen, die es scheinbar geniessen, grausame Verbrechen zu begehen, und diese auch stolz präsentieren. Was ist es, das diese jungen Leute davon überzeugt, ihre Familien und Freunde, ihren Komfort und ihre eigene Zukunft aufzugeben, für einen sinnlosen und brutalen Krieg? Gleichzeitig wächst in Europa die Angst vor dem Islam und gefährdet damit wichtige Werte wie Toleranz und Akzeptanz für die Generationen gekämpft haben. Ich denke, es ist eine absolute Notwendigkeit, dass wir einen Diskurs eröffnen, um herauszufinden, welche Art von Gewaltlosigkeit wir brauchen, um auf lange Sicht hin Radikalisierungen und die wachsende Bigotterie zu besiegen. Wie können wir in Frieden zusammenleben und dabei unsere Unterschiede akzeptieren? Die Debatte hat bereits begonnen und als Filmemacherin fühle ich mich verantwortlich und dazu verpflichtet auf jede mir zur Verfügung stehende Art und Weise zu helfen, diese Diskussion aktiv vorwärts zu treiben. Als Pazifistin bin ich gegen jegliche Form von Gewalt und ich glaube, dass es heutzutage wichtig ist, dass jede/r macht, was in ihrer/seiner Macht steht, junge Männer und Frauen davon abzuhalten, solchen dschihadistischen Gruppen beizutreten. Ich hoffe, dass ich mit meinem Film „Mein Freund der Dschihadist“ dabei helfen kann, die Augen zu öffnen für dieses wachsende Problem inmitten unserer demokratischen Gesellschaften.

Vor einigen Jahren las ich den Roman „Schnee“ vom türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk, der 2006 den Literatur-Nobelpreis erhielt. Dieser aussergewöhnliche Roman erforscht den Konflikt zwischen strenggläubigen Islamisten und Säkularen in der modernen Türkei. In dem Buch gibt es ein fantastisches Kapitel, „Excuse Me, Sir, The First and Last Conversation between the Murderer and his Victim“, in dem ein junger Islamist in jene Konditorei eintritt, in der der Direktor der Pädagogischen Hochschule gewöhnlich sein Lieblingsgebäck verspeist. Der junge Mann nähert sich dem Direktor, zeigt ihm seine Pistole und sagt, er sei hier, um ihn zu töten, doch will er ihm eine Chance geben, sich zu verteidigen. Er wird ihm ein paar Fragen stellen und wenn es dem Direktor gelingt, ihn mit seinen Antworten zu überzeugen, lässt er ihn leben, wenn nicht, erschiesst er ihn.

In diesem aussergewöhnlichen Kapitel, in dieser Konversation, zeigt Orhan Pamuk - ich denke exemplarisch für viele Gesellschaften - die Suche nach einer neuen Identität bzw. den Kampf, das Spannungsfeld, zwischen tief verwurzeltem traditionellem religiösem Denken und der Moderne auf.  

Heute wandern viele Menschen aus Entwicklungsländern in die sogenannten demokratischen Staaten Europas, auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Familien. So finden wir in allen europäischen Ländern eine Vermischung verschiedener Kulturen. Wie ist aber mit Immigration umzugehen?  Was tut Europa, um diese Immigranten in ihre jeweiligen Länder und Kulturen zu integrieren? Leider werden sie meist, bewusst oder nicht bewusst, als zweitklassige Menschen behandelt. Dies brachte schliesslich auch eine Generation von desillusionierten Jugendlichen in den europäischen Städten hervor, die Ausgrenzung sowie das Gefühl, hier nicht hinzugehören, nichts wert zu sein, sehr gut kennen.

Nach den Terroranschlägen am 11. September brach mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak eine neue Zeit an. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ eliminierte nicht nur Terroristen, sondern brachte diversen Terrorgruppen zahlreiche neue Mitglieder und stärkte diese. 

Dass sich heute viele junge und desillusionierte Europäer den Dschihadisten anschliessen, um gegen den Westen zu kämpfen – und dabei zahlreiche Muslime der jeweiligen Gebiete töten - kann als Folge dieser Entwicklungen gesehen werden.

„Schnee“ hat mir die Augen geöffnet. Inspiriert durch das Buch und durch die vielen Geschichten von Leuten, deren Söhne und Töchter sich den Dschihadisten angeschlossen haben, dachte ich, dass es nun an der Zeit ist, einen Film über dieses Thema zu machen. Ich traf mich mehrmals mit Tali, Talkhon Hamzawi, und fragte sie bei einem unserer Treffen, ob sie sich vorstellen konnte, mit mir zu diesem Thema an einem Film zu arbeiten. Sie interessierte sich sofort für das Thema und auch an einer Zusammenarbeit mit mir. Nach mehrmaligen Treffen kam die Idee auf für das Drehbuch mit einem erfahrenen und guten Schriftsteller zusammenzuarbeiten. Da wir jemanden brauchten, der weiss, was Fundamentalismus ist, und sehr gut schreiben kann, dachte ich an meinen ehemaligen Professor und guten Freund im Iran, Hamid Amjad, der mich in Drehbuch-Schreiben unterrichtete. Er ist ohne Zweifel einer der differenziertesten Schriftsteller, Drehbuchautoren, Regisseure und Intellektuellen im Iran. Als iranischer Autor, der unter dem unterdrückenden Mullah Regime lebt, kennt er die Mentalität der religiösen Fanatiker gut. Tali und ich, als iranisch-schweizerische Filmemacherinnen, können wiederum beim Schweizer Kontext der Geschichte beitragen. Ich denke, dass wir mit einem sehr erfahrenen Autor wie Hamid Amjad, einer iranisch-schweizerischen Filmemacherin, die sowohl in der Schweiz wie im Iran Filme gedreht hat, und einer jungen Filmemacherin aus Zürich mit iranischen Wurzeln ein gutes Team bilden, um eine interessante, aufschlussreiche und wichtige Geschichte zutage zu bringen. 

SIDE B