Interview mit Natalie Baye, Hauptdarstellerin von «Une liaison pornographique»

Was hat sie motiviert, sich an diesem komischen Abenteuer zu beteiligen?
Ich habe eines Tages ein Drehbuch zugeschickt bekommen, dessen Titel «Une liaison pornographique» mich neugierig gemacht hat, mehr von dieser Geschichte wissen zu wollen... Wenn ich ein Drehbuch lese, dann versuche ich immer die Position der Zuschauerin einzunehmen, und von diesem Buch war ich von der ersten Szene an gefangen und, ohne Zweifel, auch erstaunt. Die Geschichte ist unglaublich berührend, und komisch. Der Stil und die Konstruktion des Drehbuchs haben mich begeistert. Ich war verführt von der anderen Art wie diese Liebesgeschichte erzählt wurde. Normalerweise treffen sich zwei Menschen, es gibt eine Phase der Verführung, sie verlieben sich und dann schlafen sie miteinander... und oftmals ist es eine Katastrophe!
Aber hier ist das Gegenteil der Fall. Sie sagt es: „Es war eine einfache Beziehung, speziell aufs Sexuelle ausgerichtet“. Die Frage der Verführung stellte sich nicht, der Sex war von Beginn an geregelt... also konnten sie sich später verlieben...


Kannten Sie Frédéric Fonteyne?

Ich kannte weder den Regisseur Frédéric Fonteyne noch den Drehbuchautor Philippe Blasband. Ich wollte die Arbeiten von Frédéric sehen. Er besitzt sein eigenes spezielles Universum und hat eine grosse Sensibilität. Sein Kurzfilm «Bob le Déplorable», mit dem er an verschiedenen Festivals Preise gewann, ist eine kleine Perle. In seinem ersten Langspielfilm «Max et Bobo» gibt es eine Liebesszene zwischen zwei Männern, wie ich sie noch selten im Kino gesehen habe. Frédéric Fonteyne, Philippe Blasband und ihr Produzent Patrick Quinet sind alle so um die Dreissig, sie haben sich an der Brüsseler Filmschule INSAS kennengelernt. Sie sind echte Freunde, es gibt eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen. In ihrer Gegenwart fühlt man sich gut. Es ist wichtig für eine Schauspielerin, mit einer verschworenen Equipe zu arbeiten. Frédéric besuchte mich auf dem Land, wir lernten uns kennen und er zeichnete Sequenzen um mir zu zeigen, wie er gewisse Szenen filmen wollte. Frédéric ist ein visueller Mensch, ein richtiger Visionär!


In dieser komischen pornographischen Beziehung sind die Darsteller weder neurotisch noch pervers. „Es sind ganz einfach Menschen wie du und ich.“ sagt Frédérich Fonteyne. Deshalb folgt man ihnen wohl mit so grosser Freude.

Ja, das ist eine der grossen Stärken des Drehbuchs. Es besteht doch eine grosse Tendenz, dass man Frauen, die ihre Phantasien ausleben wollen, verurteilt. Die starke Zunahme von Kleinanzeigen in ganz normalen Zeitschriften zeigt doch, dass viele Menschen Lust haben, jemanden zu treffen, etwas aussergewöhnliches auszuleben, ohne gleich als krank oder pervers abgestempelt werden zu wollen. Vielleicht sind ja genau jene, die sich nicht getrauen, ihre Phantasien auszuleben, viel neurotischer! Im Film ist man mit Personen konfrontiert, die uns gleichen. Und vor allem begibt man sich nicht in das Krankenzimmer eines Psychologen. Der Film ist keine psychoanalytische Interpretation eines Falles, sondern erzählt einfach eine sensible und komische Liebesgeschichte.


Lassen Sie uns von der Frau sprechen. Wer ist sie? Fühlen sie sich mit ihr verwandt?
Normalerweise suche ich mir immer Rollen, die nichts mit mir zu tun haben. Es ist für mich spannender, das Unbekannte zu erforschen. Dennoch verstand ich diese Frau sehr gut, als ich mich ihr näherte... Ich fand in ihr bestimmte Dinge von mir... Aber wer sie ist, dass weiss ich nicht... Zu Beginn der Arbeit fragte ich Frédéric Fonteyne nach ihrem Beruf, ihrer Vergangenheit, etc.... Aber mir wurde schnell bewusst, dass das keine Rolle spielte. Es gibt ja Hinweise in ihrer Wohnung, dass sie weder eine Dame aus der Bourgeoisie noch eine Frau des Proletariats ist. In dieser Geschichte erfüllen „Er“ und „Sie“ nur ihre Funktion in Bezug auf den Anderen, darum sitzen sie  sich auch ständig gegenüber. Diese Unklarheit half mir, mich in der Rolle besser zu spüren, sodass ich in bestimmten Augenblicken grosse Emotionen zeigen konnte.


Diese Frau hat eine gesunde Einstellung zum Vergnügen, aber ohne feministischen Anspruch.
Ja, sehr gesund, viel gesünder als in der Frustration  zu leben und dreimal pro Woche zum Psychiater zu gehen. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen erwachsenen Menschen, ohne Machtspiele und ohne Vergeltungsansprüche seitens der Frau. In einem Interview sagt sie: „Ich hätte es schon öfter tun wollen, aber meine Männer wollten es nie tun... Also habe ich auf einen Moment gewartet, in dem ich keine Beziehung hatte und sagte mir: Warum soll ich diese Phantasie nun nicht einmal ausleben?“ Ich finde das genial und bewundernswert!


Sie bestimmt die Spielregeln.
Diese Person hat zwei Gesichter, was immer interessant zu spielen ist. Sie ist sehr selbstbewusst und führt gewünschte Situationen herbei. Aber gleichzeitig, wenn sie dem Mann gegenüber sitzt, scheint sie für Augenblicke ein kleines Mädchen zu sein. Sie verliert ihre Zielstrebigkeit, sie spricht wie ein Wasserfall, erzählt lange Geschichten und fragt ihn zum Beispiel, ob er behaart sei. Sie befindet sich in einer Situation, in der sie mit dem Sprechen ein Schweigen vermeiden will. Mir gefällt diese erwachsene und diese kindliche Seite an ihr.


Sie sagt, sie hat ein Bedürfnis ihre Phantasie auszuleben.
Ohne diese Person analysieren zu wollen, verstehe ich sie sehr gut. Wir alle haben in verschiedenen Lebensabschnitten bestimmte Wünsche, seien es Phantasien oder andere Dinge. Mit 20 sagt man sich: „Also ich würde gerne das tun...“. später sagt man sich: „Wenn ich es jetzt nicht tue, dann mach ich es nie mehr.“ Ich denke nicht, dass es gut ist, alle seine Phantasien auszuleben, einige müssen in der Vorstellung bleiben. Aber in diesem Fall hat die Frau das Bedürfnis, Sie auszuleben. Ihre Phantasie ergreift sie vollständig. In Wahrheit schenkt sich diese Frau den Luxus, sich selber zu sein. Und das macht sie glücklich.


Die Frauen scheinen bestimmter die Verwirklichung ihrer Phantasien anzustreben und nicht so verlogen wie die Männer zu sein.
Männer sind viel schamhafter als Frauen, vor allem haben sie immer Angst, sich lächerlich zu machen. Als die Frauen sich ihre Freiheit erkämpft hatten, erliessen die Männer einfach striktere Verbote. Früher gärte es nur im Innern, doch heute kommt das alles raus.


Haben Frauen nichts mehr zu verlieren?
Doch, sie haben noch viele Dinge zu verlieren, sie müssen vorsichtig sein.


Sie und er scheitern weder an der sexuellen Monotonie noch an einem anderen verlockenden erotischen Angebot. Im Gegenteil, sie scheitern an ihren Gefühlen...
Nachdem sie sich zum ersten Mal „normal“ geliebt haben, realisieren sie es plötzlich... und sie beginnt zu weinen. Sie sagt: „Ich war verloren. Mit einem Mal wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich empfinden sollte.“ Sich zu verlieben war nicht vorgesehen in ihrem Plan, sie hatte sich ihre Geschichte nicht so vorgestellt und gerät deshalb in ernste Schwierigkeiten. Dieser Moment ist sehr schön.


Die Liebe macht ihr Angst!
Das ist auch eine Frage des Alters. Mit 20 hat man noch keine Angst vor der Liebe. Man hat das Leben noch vor sich. Je älter man wird, desto mehr weiss man, die guten Dinge zu schätzen... aber man hat auch mehr Angst! Sie entwickeln von Beginn an ein Verhältnis, in der das Privatleben ausgespart wird, und plötzlich erfährt ihre Beziehung eine ganz neue Wendung. Die Gefahr zu stören kommt hinzu. Das Ende ist aufwühlend, sie sagt: „ Ich hatte beschlossen bei ihm zu bleiben, auch wenn er sich dagegen zur Wehr setzen würde. Ich werde um ihn kämpfen bis zum Schluss“... aber sie tut es nicht... Sie denkt, dass er recht hat. In Wahrheit verehren sie sich zu sehr, keiner will das Territorium des anderen verletzen.


Sie entdecken, dass ihnen einfacher Sex genau so viel Lust bereitet wie der Vollzug ihrer Phantasie.
Weil das neu ist! Bei einem Paar, das immer „normalen Sex“ hatte, würde das Gegenteil passieren: Die Entdeckung einer neuen Spielart würde wohl eine grosse Lust bereiten. Das ist der Reiz des Unbekannten, und des Neuen. Die Kühnheit des Drehbuchs besteht darin, dass man nichts über ihre Phantasie erfährt. Man kann sich alles vorstellen! In dem Moment, in dem sie sich ganz normal lieben, beschleicht die beiden eine unglaubliche Scham. Man hat das Gefühl sie entdecken die Lust. Aber sie entdecken auch die Liebe.


Das ist ein rührender, aber auch ein komischer Moment!
Ja, das ist ein berührend und komisch, wenn sie fragt, ob sie sich im Moment des Orgasmus das Leintuch über den Kopf ziehen darf. Sie sagt: „Ich schneide Grimassen, wenn ich komme!“ Wenn man verliebt ist, hat man Angst, dass man dem anderen nicht gefällt. Ich verstehe, warum gewisse Frauen es vorziehen, ihre Phantasien mit einem fremden Mann auszuleben. Man kann gewisse Phantasien lieben, die dem Partner gar nicht gefallen. Auch hier existiert die Angst, dem anderen zu missfallen.


Im Film steckt viel Humor.
Ja, in gewissen Momenten konnte ich mich vor Lachen nicht mehr beherrschen. Ich amüsiere mich, wenn er sagt: „In den Filmen haben die Paare immer einem gemeinsamen Orgasmus. Die Sexszenen sind entweder eine Katastrophe oder das Nirvana, niemals gibt es etwas dazwischen. Im richtigen Leben ist es aber sehr oft etwas dazwischen.“ Und diese Liebesszene, in der sie ohne Unterbruch spricht. Sie erzählt die Geschichte des Typen, der beim Sex die ganze Zeit auf seine Uhr schaute, nur weil er in einer Zeitschrift gelesen hatte, das achtzig Prozent der Frauen erst nach zwanzig Minuten Sex zum Orgasmus kommen. Er versuchte nur, sich daran zu halten!


Das witzige ist, dass die beiden unterschiedliche Erinnerungen an diesem Moment haben. Sie erinnert sich an einen gemeinsamen Orgasmus, während er sagt, er hätte versagt.

Jeder träumt ein wenig seine Geschichte, das ist auch eine der schönen Ideen des Drehbuchs. Er sagt zum Beispiel, dass sie sich über eine Anzeige in einer Spezialzeitschrift kennengelernt hätten. Sie sagt, sie hätten sich übers Minitel getroffen... Er oder sie beschönigen die Wahrheit. Es gibt Dinge, die man aus Scham nicht sagen will, und mit der Zeit verschönert man die Wahrheit und der Blickwinkel verändert sich.


Die Szene mit der Liebeserklärung ist sehr aufwühlend. Der Mann weint... Es ist schön einen weinenden Mann zu sehen!
Diese Szene charakterisiert so treffend Männer und Frauen. Ja, ein weinender Mann ist sehr schön. Und sehr selten. Das ist sicher darauf zurückzuführen, dass man den Knaben erzählt, dass ein richtiger Mann nicht weint. Ich werde den Moment, in dem ich meinen Vater zum ersten Mal weinen sah, nie vergessen. Das passierte, als er vom Tod meiner Mutter erfuhr. Er ging ins Haus und seine Tränen ergossen sich über die Schulter meiner Mutter. Ich war noch ein Mädchen... Ich hatte nicht den Eindruck, dass mit diesem Bild meine Achtung vor meinem Vater sank. Nein, im Gegenteil, diese Sensibilität gab ihm sogar noch etwas ganz spezielles.


Das Ende ist überraschend, es gibt kein Happy-End.
Sie erleben nur das, was im Leben so oft passiert. Männer und Frauen, in der Arbeitswelt äusserst effizient und leistungsfähig, sind in ihrem Liebesleben mit ihren Gefühlen äusserst zurückhaltend. Ich kenne Menschen, die ihr ganzes Leben einen Menschen geliebt haben, aber nie daran gedacht haben, es ihm zu sagen. Wohl jeder findet Momente aus seinem eigenen Leben im Verlauf der Geschichte dieses Paares. Ich habe mich in dieser Szene wieder erkannt, als die Frau ihn einige Zeit nach ihrer Trennung auf der Strasse erkennt, aber nicht zu ihm hingeht, um ihn wieder zu treffen...
Die Idee mehrere Leben in einem zu haben, gefällt mir. Einer der grossen Vorzüge in meinem Beruf ist es, verschiedene Personen zu leben und in unbekannte Bereiche vorzustossen. Ich verstehe aber auch die Menschen, die ihrem Weg mit grosser Bestimmtheit folgen, das hat sicher etwas beruhigendes.


Nathalie und Sergi... Frédéric Fonteyne hatte diese schöne Idee, dieses wunderbare Schauspielerpaar zusammenzustellen.
Es war eine wahre Freude mit Sergi zusammenzuarbeiten. Er hat solch eine Genauigkeit beim Spielen und eine überwältigende Authentizität. Er hat mich immer wieder überrascht. Beim Einstudieren der Szenen sind wir nicht abgestumpft – mit einem so reichhaltigen Text wird man sehr schnell zu mechanisch, und wir benötigten immer nur weniges Takes.
Diese Dreharbeiten waren eine sehr glückliche Zeit für mich.


Das Interview führte Gaillac-Morgue

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