Anmerkungen des Autors Placid Maissen zu «YOLO»

Aus meinem Laden an der Langstrasse in Zürich sehe ich „Die ganze Welt“. Ich bin hier im Quartier aufgewachsen und verbrachte auch meine Jugendzeit im Stadtkreis Aussersihl. Gerne bin ich unter den Leuten, die hier verkehren. Es ist ein buntes Volk und ein verrücktes Sprachengemisch. Menschen aller Gesellschaftsschichten und Religionen mit ihren Traditionen und Werten treffen hier aufeinander. Im täglichen Kontakt mit Kunden und Passanten erfahre ich von ihnen Lebensgeschichten, was sie bewegt und manchmal offenbaren sie mir ihr Leben und ihre Träume.

Meine Sympathie gilt besonders jenen Menschen, die für ein eigenständiges Leben, trotz inneren und äusseren Widerständen, kämpfen. Und es ist mir ein Bedürfnis ihre Verletzlichkeit, Träume, Ängste und die Widersprüche ihrer Liebe in einer universellen Geschichte darzustellen. 

Mein Familiendrama erzählt die Geschichte einer jungen Schweizerin mit türkischem Migrationshintergrund, die mit 17 Jahren mit dem Sohn einer befreundeten Familie aus Köln zwangsverheiratet werden soll.

Im Jahre 2008 wurde ich mit einer solchen Geschichte an meinem Arbeitsort konfrontiert. Meine Lernende mit indischem Migrationshintergrund sollte mit ihrem Cousin in Kanada zwangsverheiratet werden. Bis dahin war mir der Begriff Zwangsheirat nur von den Medien bekannt. Plötzlich war ich als Berufsbildner, der für seine Lernende verantwortlich ist, mittendrin in einer solchen dramatischen Situation, deren Ausgang ungewiss war. Ich half meiner Lehrtochter in ihrer Zwangssituation und suchte nach Adressen, wo sie Hilfe finden konnte. Es war ein besonderes Gefühl, das Untertauchen der Lernenden vorzubereiten, mit den Institutionen in Kontakt zu treten und ihrem Vater gegenüber zu stehen, der seine Tochter sucht. Die junge Frau vertraute mir. Es gab viele Gespräche über die Familie, die islamische Kultur und ihre Gefühle. Ich bekam einen direkten Einblick in die Familienstruktur und die Mechanismen, die zur Zwangsheirat führen.

Ich begann mich mit der Thematik auseinanderzusetzen, und immer mehr entstand dadurch in mir das Bedürfnis, darüber eine Geschichte für einen Film zu schreiben.Ich weihte die betroffene Frau in mein Projekt ein, und sie war damit einverstanden.

Aus dieser realen Geschichte entwickelte ich die fiktive Geschichte von Sibel. Ich konnte Rolf Schmid (Fama Film AG) für den Stoff gewinnen. Er begleitete mich bei der Entwicklung des Treatments. Das BAK und das Aargauer Kuratorium förderten die Drehbuchentwicklung. Die Entwicklung des Drehbuchs zog sich über viele Jahre hinweg.Die Zeit war geprägt von unzähligen Recherchen im Internet, Interviews, Befragungen, Besuchen von Vorträgen, Podiumsdiskussionen und dem Anschauen von Filmen mit ähnlicher Thematik. Ich schrieb viele Fassungen, erst im indischen, später aus Casting Gründen im türkischen Milieu. Im letzten Jahr konnten wir Sebastian Stobbe aus Köln, als Koautor für die Überarbeitung und die Endfassung gewinnen.

Das Schicksal meiner Lernenden und der Filmfigur sind keine Einzelfälle. Gemäss einer Auftragsstudie des Bundesamts für Migration aus dem Jahr 2012 gibt es 340 bis 700 Fälle pro Jahr in der Schweiz. Das Ausmass des Problems Zwangsheirat, gemäss der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, lässt sich jedoch nicht abschliessend quantifizieren. Die Fachstelle Zwangsheirat hat seit Aufnahme der Beratungspraxis 2005 bis Januar 2016 1072 Beratungen durchgeführt. Davon sind 18% Männer. 91% der bei der Fachstelle Zwangsheirat beratenden Betroffenen sind in der Schweiz aufgewachsen oder geboren. Gemäss den Erhebungen der Bundesstudie zu Zwangsheirat von 2012 sind 38 % der Betroffenen in der Schweiz geboren. Bei der Fachstelle Zwangsheirat verlassen 19 % ihre Herkunftsfamilie, davon präferieren lediglich 1,5% eine Schutzeinrichtung, in gerade mal 1% aller Fälle kam es zu juristischen Massnahmen. Die Fachstelle erhält durchschnittlich fünf Meldungen pro Woche, vor den Sommerferien bis zu neun Meldungen innerhalb einer Woche. 

Erschreckend ist die massive Zunahme von Zwangsheiraten mit Minderjährigen in der Schweiz (Tages Anzeiger 8.8.2016).

Die Verschärfung des Strafgesetzes im Jahr 2013 (eigener Straftatbestand Art.181aStGB) führte inzwischen dazu, dass die Zwangsheirat zu einem Offizialdelikt wurde. Doch die betroffenen jungen Menschen stecken in einem Dilemma. Einerseits wollen sie ein selbstbestimmtes Leben führen, andererseits wollen sie nicht, dass es zu einem Bruch mit der eigenen Familie kommt. Die Kinder zeigen ihre Eltern kaum an und suchen nach einer eigenen Strategie, wie sie aus ihrer Zwangssituation herauskommen. 

Zudem hat mir Frau Sivaganesan, Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat, bestätigt (28.11.16), dass Zwangsheirat im türkischen und anderen kulturellen und sozialen Milieus in der Schweiz Realität ist.

Dem Geist von Tradition und Patriarchat wird in der Geschichte eine Skateboard - Freestyle-Jugendkultur gegenübergestellt, in der es keine starren Vorgaben gibt. Im September 2010 besuchte ich die freestyle.ch-Veranstaltung auf der Landiwiese in Zürich und war fasziniert von den akrobatischen Leistungen der Sportler. Für Sibel sind das Skateboard, aber auch die Schweiz, Inbegriff eines freien Lebens. Sibel steht für eine Generation, deren Jugendsprache mit Begriffen aus der Skateboard-Szene gespickt ist. Es ist meine Absicht, damit einen klaren Gegensatz zur traditionell patriarchalischen Kultur des Orients zu schaffen.
Ich denke, deutlicher könnte der Kontrast nicht sein: Enge in den Innenräumen, Weite mit den Skateboard-Aktionen. Ein trendiger Soundtrack soll das damit verbundene Freiheitsgefühl verstärken und ein junges Publikum gewinnen.

Die Geschichte von Sibel soll berühren: Die ihr am nächsten stehenden Menschen wollen ihr ein Leben in Freiheit aus kulturell patriarchalischen Gründen verbieten und sie disziplinieren. Sibel muss die Familie wegen der bevorstehenden Zwangsheirat verlassen. Sie zieht zu ihrem türkischen Freund und fällt vom Regen in die Traufe. Die Frau gewinnt am Schluss, weil der existentielle Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben stärker ist, als die starren Regeln einer traditionell, patriarchalischen Gesellschaft, aber auch weil die Gesetze der Schweiz auf ihrer Seite sind. Sibel ist eine starke Persönlichkeit und schafft es. Am Ende wehrt sich Sibel gegen ihren Vater; sie schlägt zurück.

Doch wie ergeht es Frauen, die sich anpassen und fügen? Was erwartet sie? Depressionen, häusliche Gewalt, Selbstmord? 

Dieser Film gibt Einblick in die Problematik der Zwangsheirat und ist ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag. Er soll betroffenen Frauen und Männern Mut machen, soll sensibilisieren unter welchem Druck und familiären Terror diese jungen Menschen und Familien stehen und wie notwendig Anlaufstellen und menschliche Unterstützung sind, basierend auf Schweizer Recht und den Menschenrechten.

Es ist eine Geschichte, welche die ganze Schweiz betrifft und über die Landesgrenze hinausweist. Zwangsheirat wird uns leider noch sehr lange Zeit beschäftigen. 

Placid Maissen, November 2016

SIDE B