Anmerkungen des Koautors Sebastian Stobbe zu «YOLO»

Der Autor Placid Maissen und der Produzent Rolf Schmid haben bei der Drehbuchentwicklung von YOLO etwas gemacht, was leider nicht immer üblich ist in der heutigen Drehbuchentwicklung: sie haben sich Zeit genommen, um das Fundament ihrer Geschichte mit Ruhe, Genauigkeit und Umsicht zu erstellen. Das ist aus meiner Sicht auch unbedingt notwendig, um einem gesellschaftlich derart brisanten und polarisierenden Sujet wie das der Zwangsheirat filmisch gerecht zu werden. Der Stoff wurzelt tief in den persönlichen Erlebnissen, die Placid Maissen als Auszubildender einer jungen muslimischen Frau machte, die sich selbst unerwartet und plötzlich mit ihrer drohenden Zwangsverheiratung konfrontiert sah. Auf dieser authentischen Erfahrung aufbauend, entwarf er als Autor einen tragfähigen dramatischen Rohbau und entwickelte ihn dann zu einer Geschichte der türkischstämmigen Skaterin Sibel weiter, die nicht nur die gesellschaftliche Relevanz der Thematik aufzeigen sollte, sondern sie für den Zuschauer emotional erlebbar machen würde. Autor und Produzent haben diesen Entwicklungsprozess unentwegt unterfüttert mit einer detaillierten Hintergrundrecherche jener sozialen Umstände, die in der Schweiz - und übrigens auch in Deutschland - bei Familien mit Migrationshintergrund zu dem Phänomen von Zwangsheirat führen.

Für mich, der ich in einem Stadium in den Entwicklungsprozess eingestiegen bin, in dem der Kern der Geschichte im Wesentlichen schon herausgeschält war, ging es von Anfang an darum, auf dem bereits Vorhandenen aufzubauen und dieses in enger Absprache mit dem Autor und dem Produzent dramaturgisch zu stärken. Dies war nicht nur meine Aufgabe, sondern auch mein inneres Anliegen, zuerst als dramaturgischer Berater, dann als Koautor von YOLO. Um im Bild des Hausbaus zu bleiben: die Architektur der Geschichte musste und wollte ich nicht von Grund auf neu erfinden, sondern vielmehr ihre Statik überprüfen und neu berechnen sowie ihren Innenausbau ausgestalten. 

Um Wände, also einzelne Szenen und teilweise auch ganze Handlungsstränge, an der einen Stelle einzureißen, Teile davon an anderer Stelle im Gebäude wieder neu zu errichten und sie um weitere notwendige Bauelemente zu ergänzen, bin ich tief eingetaucht in alle Figuren und ihre Motivationen. Dabei habe ich erfahren, in welch existenziellen Dilemmata alle Beteiligten sich befinden – und zwar auf beiden Seiten der Konfliktlinien. Wertgegensätze prallen aufeinander, die in den meisten Fällen nicht vereinbar bzw. auflösbar sind. Es bleibt fast immer nur die Entscheidung, auf welche Seite man sich stellt und egal wozu man sich auch entschließt: man hat einen hohen Preis dafür zu zahlen. Das gilt natürlich in erster Linie für junge Frauen wie Sibel, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, dies aber nur können, wenn sie sich bei einer bevorstehende Zwangsheirat von der Familie lossagen. Das erfordert nicht nur Mut, sondern auch Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen von jungen Menschen, die gerade erst dabei sind, sich selbst zu finden. Eine enorme psychische und seelische Herausforderung! Die Härten eines solchen Entschlusses wird durch Sibels Geschichte, die wir mit YOLO erzählen,  für den Zuschauer emotional erfahrbar.  Sie zeigt, dass eine Befreiung aus der Zwangslage für die Betroffenen möglich ist. Schaffen sie dies nicht, werden sie zu Gefangenen. 

Sebastian Stobbe, Dezember 2016

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