Rezensionen / Presse

Erwin Heberling

Ist das Leben eine logische Abfolge von Ursache und Wirkung, sind gar übersinnliche Kräfte im Spiel oder ist alles einfach nur unbeeinflussbares Schicksal ?
Barbara Alberts vielschichtiger Film vermengt auf faszinierende Weise grundsätzliche Fragen mit ganz persönlichen Geschichten und den Versprechungen unserer Konsumgesellschaft. Es geht um Einsamkeit, Trauer und Tod, aber auch um Momente kurzen Glücks.
Barbara Albert, die Regisseurin von «Nordrand», macht auch in ihrem zweiten Spielfilm, der in einer österreichischen Kleinstadt spielt, ihrem Ruf als österreichisches Regietalent alle Ehre. In einer Art Beziehungspuzzle erzählt sie viele kleine Geschichten, bei denen sich fast zwangsläufig eine aus der anderen ergibt. Alles hängt mit allem zusammen und doch ist jede der Figuren mit sich allein beschäftigt.
Zu Beginn des Films erleben wir, was ein Flügelschlag eines Schmetterlings alles bewirken kann. Irgendwo anders in der Welt löst er einen Wirbelsturm aus und bringt ein Flugzeug zum Absturz. Die Supermarktkassiererin Manu überlebt als einzige das Unglück, doch sechs Jahre später holt sie das Schicksal auf tragische Weise ein. Auf der Rückfahrt von einem Discoabend kommt es zu einem Frontalzusammenstoß. Manu hinterläßt nicht nur ihren Mann Andreas und ihre kleine Tochter Yvonne, zurück bleibt auch ihre beste Freundin Andrea, die noch in der Disco geblieben war.
Im entgegenkommenden Wagen bleibt der junge Kai fast unverletzt, während seine  mitfahrende Freundin eine Querschnittslähmung davonträgt. Sie trennt sich von ihm, Kai muß mit seiner Schuld leben und lernt die Einzelgängerin Patricia kennen, die als Kind den Selbstmord ihrer Eltern erleben mußte und nun okkulte Zusammenkünfte veranstaltet.
Aus dem bunten Beziehungsgeflecht ergeben sich noch weitere Storys mit ganz unterschiedlichen Menschen, die das Leben einsam gemacht hat, die mit ihrem Los hadern und nach einem bißchen Glück suchen. Barbara Albert betreibt aber keine Milieustudie, es geht um grundsätzlichere Fragen.
„Wir machen Sie glücklich“ versprechen die großflächigen Werbetafeln, mit denen das in Bau befindliche neue Einkaufszentrum für seine bevorstehende Eröffnung wirbt. Eher auf therapeutische Angebote setzt die in sich gekehrte Sandra, die ohne ihren aus Afrika stammenden Vater aufgewachsen ist. Sie findet ebenso wenig ihr Glück wie ihre Mutter Belinda, die sich gerne wieder binden würde und nach einer neuerlichen Enttäuschung des Lebens überdrüssig ist.  
Daß der Film nicht so düster ist, wie es scheinen mag, hat viel mit der Musik zu tun, der Barbara Albert viel Raum gewährt. So sind es die schönsten Szenen des Films, wenn Manu und Andrea auf der Fahrt in die Disco ihren Lieblingshit mitsingen, wenn Patricia in einer Unterführung zur Musik eines Straßenmusikers zu tanzen beginnt oder Belinda mit dem Leiter des Kirchenchors ein Lied von Hannes Wader singt. Dies hat keinen Moment von Kitsch, sondern drückt im Gegenteil aus, daß die Figuren hier am dichtesten bei sich sind.
Um das Leben aushalten zu können, braucht es die Welt der Phantasie und Tagträume. Und so endet der Film mit der kleine Yvonne, die fasziniert vor einer Pfütze sitzen bleibt, in der die hinein prasselnden Regentropfen immer wieder neue, endlose Kreise bilden.

Oliver Zimmermann

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen? Diese oft zitierte Frage aus der Chaostheorie geht auf den amerikanischen Meteorologen und Mathematiker Edward Lorenz zurück und stammt aus dem Jahr 1972. Mehr als drei Dekaden später formt die Wiener Filmemacherin Barbara Albert («Nordrand») daraus einen depressiven Episodenfilm über Schicksalsschläge und deren weitreichende Auswirkungen.
Wie durch ein Wunder überlebt Manu (Kathrin Resetarits) einen Flugzeugabsturz im Golf von Mexiko. Sechs Jahre später hat sie in ihrer österreichischen Heimat weit weniger Glück. Nach einem Discobesuch stirbt sie bei einem Autounfall auf der Landstraße. Dadurch setzt sie für Verwandte, Bekannte und andere am Unfall beteiligte Personen eine Kette trauriger Ereignisse in Gang.
Gabi (Nicole Skala), die Beifahrerin des gegnerischen Unfallautos geht querschnittsgelähmt aus dem Crash hervor. Sie trennt sich daraufhin von ihrem Freund Kai (Dominik Hartel), der am Steuer saß und dem sie die Schuld an dem Unfall gibt. Kai bändelt nach der Zurückweisung seinerseits mit der esoterisch veranlagten Außenseiterin Patricia (Désirée Ourada) an. Sie ist plötzlich die einzige, die ihm Verständnis entgegen bringt. Diese drei jungen Menschen sind nicht die einzigen, bei denen Manus Geist bis weit nach ihrem Tod allgegenwärtig bleibt.
Barbara Albert führt in ihrem zweistündigen Drama rund zwölf Personen ein, die alle auf der Suche nach Geborgenheit und Liebe sind. Ihre unterschiedlichen Schicksale sind im Kern identisch und ähneln dadurch einem Fraktal, dessen Teilmenge in der Vergrößerung stets das Aussehen der Gesamtmenge aufweist. Die Protagonisten verbindet Trauer und Einsamkeit. Der Zufriedenheit wird dagegen nur wenig Platz eingeräumt. Sie beschränkt sich auf ein paar kurze Momente. Der Großteil des Films besteht aus menschlichen Verlusten, psychischen wie physischen Verletzungen und Selbstmordversuchen.
Das ist schwere Kost. Zumal die handelnden Charaktere immer nur kurz auftauchen und somit keine emotionale Nähe zulassen. Bei dem Versuch, ihrem Leben einen positiven Sinn zu geben, scheitern sie immer schon im Ansatz. Davon nimmt sich selbst der oft porträtierte Liebesakt nicht aus. Jeder darf hier irgendwie mit jedem mal in die Kiste. Mal zart, mal hart. Dennoch ist der Sex nie befriedigend für Körper oder Geist.
Mit seiner trostlosen Grundstimmung ist «Böse Zellen» wahrlich nur schwer zu ertragen. Das Leben wird als ewiger Kreislauf aus Leid und Enttäuschungen skizziert. Mit der Schlussszene, in der Manus traurige Tochter Yvonne (Deborah Ten Brink) vor einer Pfütze hockt und die wiederkehrenden Muster der Regentropfen beobachtet, lässt Albert ihr Publikum sinnbildlich im Regen stehen. «Böse Zellen» ist ein Film der verstört. Sollte die Regisseurin tatsächlich meinen, das wahre Leben abgebildet zu haben, muss man sich um ihren Gemütszustand ernsthaft Sorgen machen. Die Frage nach Schicksal oder Zufall sowie die Verarbeitung von Trauer und Einsamkeit ist auf der Leinwand, zuletzt etwa in «Open Hearts» oder «Das Zimmer meines Sohnes», schon wesentlich besser und eindringlicher thematisiert worden.

Quelle unbekannt (Internet)

Seit «Nordrand» konnte man von Barbara Albert höchstens einen (u.a. mit Ulrich Seidl realisierten) Dokumentarfilm sehen, jetzt meldet sie sich mit dem Drehbuch zu Nina Kustoricas Auswege und ihrem in Locarno im Wettbewerb gelaufenen «Böse Zellen» wieder zurück.
Böse Zellen ist ein narratives Experiment, das an Alan Moores großartigen (aber unvollendeten, nur zwei von zwölf Bänden erschienen) Comic «Big Numbers» (1990) erinnert. Auch hier geht es um die (teilweise sehr zufälligen) Verbindungen diverse Personen in einer Kleinstadt, über der zumindest filmisch visuell ein Einkaufszentrum thront, das im Verlauf eines Jahres aufgebaut wird. (Bei Moore haben wir nur die Pläne gesehen, die wahrscheinlichkeit ist aber groß, daß auch «Big Numbers mit der Eröffnung des Mall hätte enden können...)
Die Chaos-Theorie und die Fraktalgeometrie des Benoit S. Mandelbrot spielen auch hier eine große Rolle, doch im Gegensatz zu «Big Numbers» hat Böse Zellen nicht nur einen Anfang, sondern auch eine Mitte und ein Ende - und dadurch einen entscheidenden Vorteil.
Insbesondere, was die Chaostheorie angeht und den Flügelschlag jenes Schmetterlings in China, der einen Wirbelsturm im Golf von Mexiko auslösen kann, halten sich Barbara Albert und ihr Film sehr zurück und überlassen es dem Zuschauer, Verbindungen zu ziehen und Theorien zu entwickeln. Der Anfangspunkt von «Böse Zellen» ist mindestens so effektvoll wie jene Schraube in «Big Numbers», die ein jugendlicher Vandale auf einen fahrenden Zug wirft: Hier stellt sich die junge österreichische Regisseurin gleich einem Flugzeugabsturz, und mit minimalen Mitteln kann sie einen fast so sehr mitreißen wie Robert Zemeckis in «Cast Away». Die Überlebende Manu führt uns dann in die Geschichte (und den Ort der Geschichte) ein wie bei Alan Moore die Schriftstellerin Christine Gathercole. Wie es bei Moore weitergeht, weiß man leider nicht, seine Pläne, aus «Big Numbers» eine Fernsehserie zu machen, habe ich nie wirklich ernst genommen. Barbara Albert hingegen benutzt ihre Figur auf eine Art und Weise, die einzigartig ist - und deshalb werde ich auch nicht herausplaudern, was Jahre später mit Manu passiert.
Doch selbst, wenn man Manu mal außen vor lässt, gibt es in «Böse Zellen» genügend seltsame Schicksale, Zufälle und Zusammenhänge, die den Kern des Films ausmachen. Mich berührten insbesondere die eigentümliche Liebesgeschichte zwischen dem Physiklehrer Lukas und der farbigen Parfümerie-Angestellten Sandra, die sich selbst an so langweiligen Orten wie einem Fast-Food-Restaurant visuell spannend entwickelt. Oder die fatalen Sexabenteuer der Kindergärtnerin Andrea. Oder die eigentümliche Beziehung zwischen zwei von Lukas' Schülern: Die unscheinbare Patricia, deren Eltern sich erschossen, und die seither Verbindungen zum Jenseits zu haben scheint, und der ehemalige Sunnyboy Kai, dessen Freundin durch einen Autounfall (mit Kai als Fahrer) querschnittsgelähmt wurde.
«Böse Zellen ist ein faszinierender Film - gerade dadurch, daß er sich den typischen Narrationsvorgaben von Spielfilmen klar entzieht. Ich würde mich gerne mal mit Barbara Albert über Alan Moore unterhalten - auch, wenn ich ihren Film nicht als Rip-Off, sondern als Hommage begreife - das wird spätestens in der Schlußeinstellung klar, wenn die kleine Yvonne den Einfall von Regentropfen in einer Pfütze betrachtet, das geometrische Spiele der sich überschneidenden konzentrischen Kreise - für Alan Moore-Fans eine weitere Referenz auf die Anfangs- und Schlußpanels von «The Killing Joke». Man glaubt, Barbara Albert zusammen mit Alan Moore lachen zu hören...

Tages Anzeiger

Den reifsten Film im Wettbewerb (Locarno) hat bisher aber die Österreicherin Barbara Albert präsentiert, und man ist sogar geneigt, «Böse Zellen» als gewaltiges Werk zu bezeichnen. Ausgehend von einem Flugzeugabsturz, der durch den Flügelschlag eines Schmetterlings provoziert wird (eine Idee der Chaostheorie) spannt die Regisseurin ein episodisches Netzwerk aus Geschichten, die die Welt nach dem 11. September perfekt abzubilden scheinen.

Profil

Die österreichische Filmemacherin Barbara Albert traut sich in ihrer Arbeit Dinge zu, denen andere gern aus dem Weg gehen... «Böse Zellen» folgt dem Prinzip der Altman’schen «Short Cuts», geht zugleich aber auch ganz andere, kompliziertere Wege: Nebenbei überdenkt die Filmemacherin die künstlichen Strukturen, die sie selbst errichtet, schliesst ihren Plot selbstreflektiv mit Philosophie, Chaostheorie und Psychotherapie kurz. «Böse Zellen» ist, im Anspruch der Autorin, fast eine Anmassung, im Ergebnis selbst aber erstaunlich balanciert. (...)
In seinen besten Momenten (...) gewinnt dieser Film rare Intensität: als Versuch, hinter die Mysterien von Verzweiflung, Sex und Sterben zu kommen. Albert birgt, unterstützt von der fabelhaften Kameraarbeit Martin Gschlachts, dabei so etwas wie einen Horrorfilm aus den Untiefen des Alltäglichen.

Der Bund

Eine wichtige Rolle spielt die Musik. So wie Albert die simplen Texte von Pophits als Ausdruck menschlicher Sehnsüchte ernst nimmt, denunziert sie auch die anderen Versuche ihrer Figuren nicht, dem Elend zu entkommen oder auf ihre existentiellen Fragen Antworten zu finden. Es ist diese Offenheit, die dem Film seine schillernde Mehrdeutigkeit gibt und die dafür sorgt, dass „Böse Zellen“ nicht in simpler Sozialkritik oder existentieller Larmoyanz versandet.

Stuttgarter Zeitung

„... meisterlich strukturiert, bravourös die Regie, die Schnittleistung schier unglaublich.“

General-Anzeiger

„... grosse Anerkennung.“

Village Voice

„... intelligente Montage (...), fantastische visuelle und dramatische Ideen.“

Variety

„... zwingendes Drama, durchsetzt mit trockenem Humor und gesprenkelt mit Übernatürlichem.“

SIDE B