Textauszüge Nacer Khemir

Ist die Realität das, was man vom Eisberg sieht, oder ist sie das, was verborgen bleibt? Oder ist es womöglich beides? Ich glaube, dass es beides ist, aber die aktuelle Welt favorisiert klar die Variante, dass nur das Realität ist, was man sehen kann, was man quantifizieren kann.Es gibt dieses alles dominierende Spiel des Realen, das mir nicht liegt, diese Idee, das Reale laufend so zu präsentieren, als ob es einfach nur die eine sichtbare Form geben würde, die dann alle Wahrheiten enthalten muss. Einer der das sehr gut begriffen hat, war Paul Klee. Klee ist auf direkter Linie in die Tradition des geistigen Bildes, dieses Bildes des Imaginären, des Bildes des Unsichtbaren vorgedrungen.


EIN UNIVERSELLER ELAN
Im Alter von 12 oder 13 Jahren kehrte ich nur drei- oder viermal im Jahr vom Gymnasium von Carthage in mein Dorf zurück. An einem Sonntag fand ich das Kino verschlossen vor. Mir selbst überlassen warf ich Steine ins Meer, bis ich plötzlich einen auswählte und mit Hilfe eines einfachen Nagels ein Gesicht in den Stein kratzte. Ich schenkte den Stein meinem Zeichenlehrer. Er erzählte mir von einem Mann in Irland, der sein Leben damit verbracht hatte, Steine zu behauen. Eines Tages brachte er mir ein Buch über Henry Moore mit. Ich blätterte den ganzen Nachmittag darin herum: Über die Entzückung für aus Steinen entstandene Skulpturen hinaus verspürte ich ein unglaubliches Gefühl bei dem Gedanken, dass meine so geringe Geste am Strand an demselben Elan teilhaben könnte an dem dieser grosse Künstler teilhatte – es ist ein universeller Elan. Es war, als wäre ich plötzlich nicht mehr alleine gewesen sondern an eine Zusammengehörigkeit der Geste gebunden, wie die einsamen Reisenden in der Wüste, die auf denselben Stern vertrauen, um ihren Weg zu finden.

Etwas später entdeckte ich jenen, der für mich Ausdruck des Reichtums plastischer Kunst um mich herum werden sollte. Bis dahin waren Gegenstände wie Teppiche, Stickereien der Beduinen etc. versteinert in der Gleichgültigkeit ihrer Funktion und ihres Nutzens. Bis zu dem Tag, an dem ich die Reproduktion eines Gemäldes von Paul Klee sah, – ich erinnere mich nicht mehr genau an den Namen, war es „Nächtliche Reise“? – auf dem auf sattem Braun drei Boote zu erkennen waren, wie ein Strich in einer geheimnisvollen Nacht. Etwas später entdeckte ich quasi dieselbe Komposition auf der Stickarbeit eines jungen Berbermädchens – auf dunkelbraunem Hintergrund hatte der Faden der Stickerin beinahe dieselben drei Boote gezeichnet. Auf diese Weise enthüllte Paul Klee mir auf Distanz (von Zeit und Raum) die eigentliche Quelle meines plastischen Universums. Er selbst hatte folgende Worte in sein Tagebuch geschrieben, als er die Schönheit und das Licht von Kairouan entdeckte: „Die Farbe und ich sind eins. Ich bin Maler…“. Und fünfzig Jahre später, dank seines Blickes auf Tunesien, verlieh er mir Zugriff auf den einzigartigen Reichtum meines Landes und machte ihn mir sichtbar. Jahrelang waren die Namen Basel, Zürich und Bern magische Namen, die im unteren Teil des Gemäldes den Namen von Paul Klee begleiteten. Bei jedem meiner Besuche in der Schweiz sehe ich mir diese Gemälde an.


DER GARTEN PAUL KLEES
Der Maghreb ist die Region unsteter Zeichen. Wie diese Bettler, von denen man nicht mehr weiss, ob sie Derwische auf der Suche nach einer Pause sind oder der Todesengel auf dem Weg zu einem Treffen, durch einen Fluch gestürzte Prinzen oder einfache Notleidende, die einen Bannbruch begangen haben und die von den ihren vergessen worden sind - was der ärgste aller Flüche ist.

Paul Klee fühlte sich in Tunesien wie zuhause, wie es seinen Worten zu entnehmen ist: „Dieses Land ähnelt mir“. Und nach der ersten Nacht fügte er hinzu: „Die Nacht im Araberviertel, Stoff für Träume, entspricht meinem eigenen Ich, das dort voll und ganz aufgesogen wird“. Er amüsiert sich selbst über seinen Gastgeber, den Doktor Jäggi, „der sich hier fremd fühlt“…Er sagt: „Er ist mir fremder, als der letzte der arabischen Bettler“. Somit entsteht sein Blick durch diese „unsteten Zeichen“, die im Stein vergessen, in der Erde vergraben, in Kupfer graviert, in Wolle eingewebt und auf den Körper tätowiert sind. Er wird sie in den Höfen der Häuser, im Inneren der Moscheen, auf Grabsteinen, in der Harmonie der Teppiche, in der Gestaltung der Stickereien, in der Fertigung von Kleidungsstücken und vielem mehr wieder erkennen. Er verfolgt sie wie eine Interpunktion im Gewirr aus Schatten und Licht, aus der die Medina von Tunis bestehen und möchte diese Ästhetik erfassen, die in den Mauern versteckt ist.

Einige Stickereien der Nomaden erzählen mehrere Geschichten einzig und alleine durch die Zeichen, spärlich verteilt auf einem braunen, warmen und tiefen Stoff, wie eine Wüs-tennacht. Es ist möglich, dass die Anordnung der Zeichen eher der arabisch-muslimischen Natur entspricht, in der die Wahrnehmung sich nicht auf  den Ort, sondern auf die Zeit bezieht – die Zeit, gleichzeitig Essenz und Werden. Klee wird für diese verlorene Sprache empfänglich, doch in seinem Inneren  dauert ein Wort an… Er erlebt den Unterschied des Blickes und vielleicht der Seele.

Am 12. April 1914 sagt er folgende schwärmerische Worte: „Der Abend ist unbeschreiblich. Überdies ist Vollmond… Dieser Abend wird mir für ewig unvergesslich bleiben. Nun geht der blonde Mond des Nordens auf. Wie ein gedämpfter Schimmer, der mich zu Stille ermahnt und mich weiter ermahnt. Und dieses Bild wird meine Gemahlin sein, mein anderes Ich… Ich selbst bin der aufgehende Mond des Südens.“ Er sucht eine Organisation des Raums, die ebenso arbiträr wie die Geometrie der tunesischen Städte ist und deren Gärten oder deren Teppiche: Eine Art von Organisation im Schachbrettmuster. Die unverteilten, sich jede in ihren Feldern befindenden Farben finden somit ihre volle Intensität, da sie von den anderen getrennt sind. Hier wird weder den Linien noch den Farben Vorrang eingeräumt: Anstelle sie zu Rivalen zu machen, wie in klassischen Gemälden, lässt er sie auf orientalische Weise miteinander kommunizieren.

Er wechselt den Aussichtspunkt, von dem aus er malt: Ganz gleich, ob es sich um die Gärten von Granada, Marrakesch, Kairo oder Tunis handelt, die muslimische Konzeption bleibt beharrlich bestehen. Es handelt sich in erster Linie um einen Ort der Träumerei, der einen die Welt zu verlassen ermöglicht. Der klassische, westliche, romanische Garten, jener der Medicis oder von Louis XIV, dient dazu, die Welt von einem zentral gelegenen Aussichtspunkt aus zu dominieren: Grosse Perspektiven führen in Richtung Horizont, das Auge nach und nach zur Eroberung des gesamten Umfeldes verleitend. Anstelle dessen ist das Wichtigste in einem muslimischen Garten eine Geschlossenheit mit hohen Mauern, die gegen die Aussenwelt abschirmen. Wichtig ist nicht, das Umfeld zu dominieren, sondern sich in dessen Mittelpunkt zu befinden.

Ein Stück Wüste, wo das Wasser hinter hohe Befestigungsmauern gebracht wird, über die weder Neugier noch Blicke in das Innere zu dringen vermögen. Eine Vielzahl an Bäumen und Blumen, die im Zentrum zunimmt, in dem sich oftmals ein Springbrunnen, ein Wasserstrahl befindet, der mit dem Himmel kommuniziert. Im Gegensatz zum klassischen oder japanischen Landschaftsgarten erzeugt dieser Garten eine Entspannung der in sich zurückgezogenen Gedanken. Der Maler ist nicht mehr der, der sieht, er ist nicht weiter der Aussichtspunkt, sondern taucht unter und wird zu Materie selbst. Wie der Nomade fühlt sich der Reisende wie ein Sandkorn in der Wüste. Paul Klee ist Maler und Garten zugleich. Was er mir gelehrt hat, wie er es selbst sagt: „Zu lernen, mehr zu sehen, als nur das Aussehen, um die Wurzel der Dinge zu erreichen“. Seitdem habe ich mein Dorf nie mehr angesehen, ohne an den Schnitt von Klee zu denken, und die rote Sonne meiner Kindheit steigt nach Art von Klee zum Himmel auf. Er hat mir zu einem Raum in mir selbst verholfen, in dem ich aufrecht stehen kann, einer grösseren Vision der Existenz gegenüber aufmerksamer, gastfreundlich zu jenem, der meinen Namen trägt. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“

SIDE B